Mit einer Klage habe man ihm gedroht, deutete Lars Bremer vor Jahren an, als er seinen noch immer lesenswerten Anti-Cheating-Text in einem entlegenen Winkel des Internets parkte. Wer heute über Cheating schreibt, muss hingegen nur noch die Klage der Leser:innen fürchten: „Ach nee, schon wieder das!“ Und wenn Schachpromotor Sebastian Siebrecht sagt: „Ich selber sprech‘ auch nicht gerne über das Thema Cheating… Ich find‘ es einfach nur extrem traurig!“ – wer versteht ihn nicht?
Gesprächsbedarf
Dennoch besteht nach wie vor dringender Gesprächsbedarf, vor kurzem sogar angemahnt vom FIDE-Präsidenten höchstselbst. Am 19. August bat Arkady Dvorkovich in einem drastisch formulierten offenen Aufruf („computer-assisted cheating is a real plague of contemporary chess“) alle Schachspieler:innen weltweit um die Beantwortung von sechs Fragen zur zukünftigen Anti-Cheating-Strategie der FIDE. Hikaru Nakamura, Super-Großmeister und gegenwärtig erfolgreichster Schach-Streamer, diskutierte diese Fragen in einer unterhaltsamen Session mit seinen Twitch-Followern, die zur Lösung des Problems u.a. vorschlugen, einfach nackt zu spielen („go commando in tournaments“). Worauf ein sichtlich erheiterter Nakamura erstmal erklären musste, dass Online-Cheating nicht bedeutet, sich Stockfish an eine versteckte Körperstelle zu kleben.
Eine neue Situation
Der folgende Beitrag enthält nun keine Antwort auf Dvorkovichs Fragen und schon gar kein Wundermittel gegen Cheating im Online-Schach. Er will vielmehr einen Aspekt der Problematik in Erinnerung rufen, der meines Erachtens in den einschlägigen Diskussionen (und auch im Aufruf des FIDE-Präsidenten) allzu wenig beachtet wird – nämlich die Verantwortung der Schachvereine.
So sehr die Cheating-Problematik das Online-Schach seit seinen Anfängen begleitet (die New York Times schrieb im März, Schach sei sogar verdorbener als Baseball!), so sehr schuf die Covid-19-Pandemie für viele Vereine eine neue Situation. Online-Schach ist nun nicht mehr ausschließlich das Vergnügen jedes Einzelnen (z.T. in Konkurrenz zum Engagement im Verein), sondern wird verstärkt von Gruppen betrieben, die auch im Offline-Betrieb existieren. Die Formel lautet: Nicht mehr Verein oder Online-Schach, sondern Online-Schach als Verein.
Cheating in der DSOL?
Diese neue Situation will auch hinsichtlich der „unerträglichen Leichtigkeit des Cheatings“ bedacht werden, wobei natürlich hierzulande der Erstauflage der Deutschen Schach-Online-Liga (DSOL) besondere Bedeutung zukommt. In der von Jens Hirneise sofort zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen ins Leben gerufenen und immer noch erfolgreichen Quarantäne-Liga auf Lichess kann es zwar einmal vorkommen, dass eine ganze Mannschaft wegen Cheatings relegiert wird – aber erstens sind dort viele Teams keine reinen Vereinsmannschaften und zweitens besteht, anders als in der DSOL, überhaupt kein Anspruch, „dem regulären Präsenz-Spielbetrieb so nahe wie möglich [zu] kommen“.
Im Vorfeld der DSOL wurde dem Thema Cheating schon allein deshalb besondere Aufmerksamkeit zuteil, weil die Deutsche Schach-Internet-Amateur-Meisterschaft (DISAM) kurz davor mit der Disqualifikation der beiden Erstplatzierten geendet hatte, was z.T. heftige Kontroversen mit sich brachte. Die DSOL-Veranstalter setzten das Thema entsprechend prominent auf die Agenda: Von den 9 Seiten der Ausschreibung sind nicht weniger als 1,5 der Cheating-Kontrolle gewidmet. Dennoch blieb unter den Pfälzer Teilnehmern zumindest Dr. Mario Ziegler von den SF Birkenfeld auch nach der ersten Runde skeptisch:
„Es würde mich sehr wundern, wenn in den 492 Partien der 1. Runde nicht ein einziges Mal ein Hilfsmittel verwendet worden wäre, das in einer Partie am realen Brett nicht zum Einsatz gekommen wäre. Aber vielleicht sehe ich hier auch zu schwarz.“
Dr. Mario Ziegler auf der Homepage der Schachfreunde Birkenfeld
Während die DSOL lief, gingen dann die wenigen öffentlich geäußerten Einschätzungen weit auseinander: DSB-Präsident Ullrich Krause, der selbst für seinen SV Lübeck in der DSOL antrat (2,5/5), antwortete im SCHACH-Interview (Nr. 8-C4/2020, Seite 22) auf die entsprechende Frage zuerst sehr knapp („Ich habe von keinem einzigen Betrugsfall gehört.“), um auf Nachfrage zu konzedieren, dass sich natürlich „vieles … nicht ausschließen [lasse]“, er aber optimistisch sei:
„[Ich] glaube, solange es nicht um Geld geht, spielen viele für ihren Verein, freuen sich über das Miteinander und stehen, wie in normalen Partien auch, zu ihren Niederlagen.“
DSB-Präsident Ullrich Krause im SCHACH-Interview
Hingegen bezeichnete Holger Hank („Seitenschach“) die DSOL in einem Tweet als „Onlineliga … für … computerunterstütztes Schach“, wobei er allerdings auf Nachfrage für diese pointierte Einschätzung nur auf sein „Bauchgefühl“ verweisen konnte.
"Die Reihen lichten sich" – FM @CmielThorsten mit einem lesenswerten Zwischenbericht zur #DSOL, der Onlineliga des @schachbund für (m.E. oft) computerunterstütztes Schach. https://t.co/Kn9jUaeR8l #Schach
— Seitenschach (@Seitenschach) August 4, 2020
"Gefunden werden diejenigen, die übertreiben."
Für Außenstehende wurde das Bild zum Ende der DSOL nicht unbedingt klarer, erinnerten doch die Meldungen zur einfachen Frage, wie viele Disqualifikationen tatsächlich ausgesprochen wurden, an eine beliebte Kindersendung: Zuerst war von einer Sperre die Rede, dann von zwei, schließlich von drei. Und bei der Dunkelziffer spannte sich ein ähnlicher Bogen von „mehrere Cheating-Vorwürfe und Verdachtsfälle“, über „etliche Verdachtsfälle“ hin zu einem kryptischen „eine kleine zweistellige Anzahl von Anzeigen“. Übersetzt man „kleine zweistellige Anzahl“ betont defensiv mit „18“ – das wären ca. 1% aller gemeldeten Spieler:innen –, dann stünden die Fälle, in denen ein:e DSOL-Spieler:in (ob zu Recht oder zu Unrecht) bei der Turnierleitung angezeigt wurde, etwa im Verhältnis 1:10 zur Anzahl der teilnehmenden Vereine (177 nach Landauer Zählung).
Für Vereine besonders spannend ist der ChessBase-Abschlussbericht, welcher aus der Sicht des Serverbetreibers in einer Offenheit über die Grenzen der Cheater-Erkennung spricht, die nichts Geringeres als einen spektakulären Paradigmenwechsel in der Diskussion darstellt. Keine optimistische „Wir kriegen euch alle!“-Rhetorik mehr, sondern das ernüchternde Eingeständnis:
„Eine stets zuverlässige und sichere Kontrolle der Partien im Nachhinein ist nicht möglich. Gefunden werden diejenigen, die übertreiben.“
Gerade unter den speziellen Bedingungen der DSOL (relativ wenige Partien mit relativ langer Bedenkzeit) kämen statistische Methoden zur Cheating-Abwehr an ihre Grenzen. Was bleibt, ist eine Bitte um Kooperation an Spieler:innen und Vereine:
„Es liegt also an den Schachspielern selbst, übertriebenen Ehrgeiz zu zügeln und auch insbesondere bei Mannschaftskameraden auf Fair Play zu achten.“
Jenseits der Technik: Cheating als soziale Herausforderung
Und jetzt? Jene knapp 20% der DSOL-Spieler:innen, die an der Feedback-Umfrage der Veranstalter teilnahmen (und sich dabei zum größten Teil für eine Neuauflage aussprachen), scheinen wiederholt den verpflichtenden Einsatz von Webcams gefordert zu haben. Genau weiß man es leider nicht, da es anders als für die britsche 4NCL Online League (ebenfalls 4er-Mannschaften und 45+15-Modus, etwas kleiner als die DSOL) bislang keine allgemein zugängliche Darstellung der Ergebnisse gibt. In jedem Fall hätte die Webcam-Fraktion Nakamura auf ihrer Seite („zwei Webcams sollten die Regel sein“); Nigel Davies und andere Großmeister gehen in ihren Forderungen sogar noch wesentlich weiter.
Wie auch immer sich die Technik-Diskussion weiter entwickelt– aktuell sieht es nicht so aus, als käme die Webcam-Variante –, der Blick auf andere Aspekte der Cheating-Problematik (wie den der Psychologie, vgl. dazu Teil 2 dieses Beitrags) sollte dabei nicht vergessen werden. Meines Erachtens sind es nicht zuletzt soziale Fragestellungen, die für die in Online-Ligen präsenten Schachvereine besonders relevant sind.
Stechmücken beim Sommerfest und ein Worst-Case-Szenario
Was ich damit meine, lässt sich am besten in vier unterschiedlichen Szenarien illustrieren:
- Beginnen wir mit dem „Normalfall“ des Online-Schachs. Spieler A streift durch die Weiten des Internet und duelliert sich in seiner Freizeit mit ihm Unbekannten auf diversen Schachplattformen. (In der Pfalz: Nach oder während des Genusses der einen oder anderen Riesling-Schorle.) Manche seiner Gegner:innen trifft er dort öfter, er testet und erweitert sein Eröffnungsrepertoire, er schult seine Stamina in schlechten Stellungen, mal läuft es schlechter, mal läuft es besser, manchmal gewinnt er sogar ein kleines Turnier – und hin und wieder wird er auf eine Art und Weise vermöbelt, dass ihm aus der Partie-Notation der kalte Hauch von Stockfish & Co. entgegenweht. Trotz dieser Zwischenfälle frönt unser Spieler A mit Freude seiner Passion. Die Cheater sind für ihn wie Stechmücken beim Sommerfest – ein ärgerliches Übel, dass sich durch alle Vorkehrungen nicht vertreiben lässt und doch die schönen Stunden nicht entscheidend trübt.
- Alles ist an dem Tag anders, an dem Spieler B, ein Vereinskamerad von Spieler A, durch einen Serverbetreiber aufgrund eines Cheating-Verdachts gesperrt wird. A kann diese – aus seiner Sicht –offensichtliche Fehlentscheidung („false positive“) nicht fassen, ärgert sich mit B über den wenig gesprächsbereiten Serverbetreiber und steht seinem Vereinskameraden öffentlich – etwa in sozialen Netzwerken – zur Seite. Ganz klar: Sollte eines Tages mein Account gesperrt werden (was dann natürlich völlig zu Unrecht geschehen würde!), dann hoffe auch ich darauf, dass die Mitglieder meines Vereins aufstehen und sagen: „Wolfgang? Der doch auf keinen Fall!“
- Noch einmal anders ist die Situation, als A und B gemeinsam mit der Vereinskameradin C und dem Vereinskameraden D an einer Online-Liga für Vierer-Mannschaften teilnehmen. A, B, C und D schlagen sich wacker, bleiben über den Erwartungen und genießen vor allem die gemeinsamen Analyse-Sessions nach den einzelnen Runden. Doch als C einmal gegen einen Spieler antreten muss, dessen Account auf einem anderen Server bereits gesperrt ist, beschleicht sie doch ein mulmiges Gefühl. Und als ein Gegner von D mit wenig Zeit zu einer komplizierten Kombination ansetzt, zischt D: „Unmenschlich gut!“ Zu einer Beschwerde beim Anti-Cheating-Officer oder zur Kontaktaufnahme mit einem anderen Verein können sich A, B, C und D aber nicht entschließen. Alles erscheint ihnen irgendwie zu nebulös, sie wollen gute Sportsfreund:innen sein und fürchten, selbst der Cheating-Paranoia zu verfallen.
- Gegen Ende der Liga stehen die Vier dann plötzlich vor einem ganz anderen Problem: B und D sind mittlerweile skeptisch, ob A seine famose Performance tatsächlich ohne unerlaubte Hilfsmittel erreicht hat. Nach einigem Zögern – eine Warnung oder gar Sperre seitens der Liga-Leitung ergeht nicht – weihen sie C in ihre Bedenken ein, die erwidert: „Seid ihr total verrückt? A ist doch seit 12 Jahren unverzichtbares Vereinsmitglied und ein prima Kerl! Der doch nicht! Und überhaupt: Wie wollt ausgerechnet ihr so etwas beweisen?“
Von diesen drei Szenarien sind (1), (2) und (3) insofern harmlos, als sie den Zusammenhalt des betroffenen Vereins nicht bedrohen; im Fall von (1) gibt es sogar keinen betroffenen Verein. Hingegen ist (4) ein klassischer Worst Case: Cheating hat nun – ob real oder nicht – das Innere des Vereins erreicht. Der (mutmaßliche) Cheater ist mit einem Schlag nicht der weit entfernte „andere“, sondern „einer von uns“.
Cheater unter uns: Das "Marcel-Problem"
Dass das soeben gezeichnete Worst-Case-Szenario – ein:e Spieler:in eines Vereins wird von seinen Mitspieler:innen des Online-Cheatings verdächtigt, ohne dass externe Hinweise (z.B. seitens des Serverbetreibers, der Schiedsrichter, der Berichterstatter oder anderer Vereine) vorliegen – kein Phantasieprodukt ist, zeigen die Kommentare unter den bereits erwähnten „Perlen“-Berichten. Hier meldete sich User „Marcel“ mit genau diesem Problem:
Am „Marcel-Problem“ zeigen sich mindestens drei wichtige Punkte:
- Die Cheating-Problematik betrifft auch das Innenleben der Vereine. Hier geht es nicht abstrakt um „die Cheater“, sondern in unangenehmer Weise ganz konkret um die Frage, ob „einer von uns“ die Grenzen des Erlaubten überschritten hat/überschreitet. Nicht zuletzt ist davon auch die Lebensader der Vereine – die Jugend! – betroffen: Welche Orientierungsmarken werden ihr an die Hand gegeben?
- Anders als Schach ist das „Marcel-Problem“ allerdings kein „Spiel mit vollständiger Information“, sondern eher eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Liegt Marcel mit seinem Verdacht richtig? Wer könnte das feststellen? Wie werden unbescholtene Mitglieder geschützt? Und wie würde Marcels Verein tatsächlich auf eine offene Thematisierung reagieren?
- Es gibt somit einen Bereich des Cheating-Problems, der nicht in der Verantwortung der Serverbetreiber und/oder der Verbände liegt, sondern in der Verantwortung der Vereine. Hier hilft kein noch so guter Anti-Cheating-Algorithmus, hier hilft kein juristisch noch so ausgefeiltes Reglement, hier hilft kein noch so engagiertes Organisations-Team – das unverzichtbare Vertrauen zwischen den Vereinsmitglieder:innen kann nur im Verein erhalten werden; ist es erschüttert, kann es ebenfalls nur im Verein wieder aufgebaut werden.
Position beziehen: Maximalisten oder Minimalisten?
Das geht aber nur, wenn es eine klare, allen bekannte und für alle Mitglieder geltende Leitlinie gibt. Prinzipiell sind ja ganz unterschiedliche Haltungen denkbar, die ein Verein einnehmen kann.
Maximalisten könnten sagen:
„Sobald wir bei einem unserer Spieler nicht mehr das 100%-ige Vertrauen besitzen, dass er ausschließlich zu fairen Mitteln greift, setzen wir ihn nicht mehr ein bzw. ziehen im Extremfall die ganze Mannschaft, in der er spielt, zurück. Uns ist v.a. wichtig, dass jeder Verein, der gegen uns antritt, weiß, dass wir zuerst vor der eigenen Türe kehren und alles uns Mögliche für einen fairen Wettkampf tun.“
Minimalisten könnten sagen:
„Grundsätzlich betrifft die Verpflichtung zum Fair-Play den einzelnen Spieler. Wir sehen keinen Anlass, unsere eigenen Mitglieder zu kontrollieren – dazu fehlen uns nicht nur die nötigen Ressourcen, auch das Risiko, ein unbescholtenes Mitglied zu Unrecht aus dem Spiel zu nehmen, ist viel zu hoch. Solange seitens der Veranstalter keine Maßnahmen ergriffen werden, zweifeln wir nicht am Fair-Play einzelner Spieler – ganz egal, welche Verdachtsmomente von Mitspielern vorgebracht werden.“
Zwischen diesen beiden Extrempositionen sind dann natürlich noch die verschiedensten Schattierungen und Abstufungen denkbar. Und je nach Tradition, Vereinskultur und Selbstverständnis wird sich vermutlich jeder einzelne Verein in diesem Spektrum ein wenig anders verorten.
Wichtig ist nur eines: Jeder online aktive Verein sollte sich zum Wohl seiner Mitglieder über seine Position klar werden, bevor es einen Anlass dazu gibt.
Teil 2 widmet sich wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema „Cheating“ und fragt,
welche Impluse davon für mögliche Präventionsstrategien ausgehen können.